Wert und Gegenwert
Letztens in einem Coaching mit mehreren Führungskräften. Lautes Klagen über den (nicht anwesenden) neuen CEO. Der scheinbar überall vereinfacht, stets nach der einfachen Lösung fragt. „So geht das doch nicht, da wird man doch der Komplexität der Situation nicht gerecht“, protestieren die Führungskräfte. Noch dazu, wo man als Organisation gerade für fachliche Exzellenz, für inhaltliche Tiefe und für die Brillanz der Konzepte und Vorgehensweisen bekannt ist! Da kann man doch nicht mit so oberflächlichen Zugängen daherkommen …
„Hm, lasst uns das mal eingehender reflektieren, vielleicht ist da doch was dran“, meint eine von ihnen. „Ein zugegeben exotischer Zugang der Simplifizierung – aber vielleicht kann der doch was?! Er könnte zumindest ansatzweise berechtigt sein. Am Ende wäre es in mancher Situation gar nicht so verkehrt, ein wenig auf Genauigkeit und Ernsthaftigkeit zu verzichten. Und dafür eine Spur gesunde Schlampigkeit, Leichtigkeit und Pepp ins Spiel zu bringen?!“
„Knifflig. Müssen wir uns denn nicht zwischen den beiden Richtungen entscheiden? Also entweder inhaltlich substanziell oder locker-flockig oberflächlich?!?“
An dieser Stelle bringe ich ein schönes Modell in die Runde. Das Ausbalancieren von Wert und Gegenwert. Das Bekenntnis zum Spiel auf der ganzen Tastatur. Den Grundgedanken habe ich in meiner Philosophie dargelegt – auf den Punkt gebracht in dem simplen Wort „und“!
Die Grammatik dahinter mutet recht simpel an: Es geht darum, anstelle eines ausschließenden „Entweder-oder“ ein verbindendes „Sowohl-als-auch“ zu wählen.
Sowohl als auch!
Ich halte das für ein schlichtweg geniales Prinzip. Anstatt Gegensätze gegeneinander auszuspielen und auf eine Schwarz-Weiß-Entscheidung zuzuspitzen, erkennt und nutzt man das Potenzial der gesamten Bandbreite. Wert und Gegenwert ergänzen einander. Genau betrachtet bedingen sie einander. Wie Licht und Schatten, wie Tag und Nacht, wie Werden und Vergehen. Das Eine braucht das Andere. Um überhaupt in Erscheinung zu treten, um wahrgenommen zu werden. Und um zu seiner vollen Bedeutung und Strahlkraft zu gelangen.
Oder um es mit Markus Ebner zu sagen: „Jeder Wert kann nur dann seine volle konstruktive Wirkung entfalten, wenn er sich in ausgewogener Spannung zu einem positiven Gegenwert, einer ‚Schwestertugend‘, befindet.“ (Positive Leadership, S. 316)
Ursprünglich soll dieser Ansatz auf den deutschen Philosophen Nicolai Hartmann und den Psychologen Paul Helwig zurückgehen. Bekannt wurde er durch den Kommunikationspsychologen Friedemann Schulz von Thun als „Werte- und Entwicklungsquadrat“.
Ein Modell, das noch sehr viel mehr an Weisheit enthält. Etwa, dass in jeder Schwäche eine Stärke steckt, ein konstruktiver Kern. Oder, dass man jede Stärke, jede Qualität, jede Tugend so stark übertreiben kann, dass sie zur Schwäche, zum Hindernis, zur Untugend wird. Auch, dass viele Spannungen und Konflikte dadurch gekennzeichnet sind, dass Anderssein nicht als Stärke und mögliche Ergänzung zum eigenen Sosein gesehen wird, sondern durch dessen entwertende Übertreibung bloß der Abgrenzung vom Gegenüber und somit der Herabwürdigung des Anderen dient. Und, dass es auf die Besonderheit der jeweiligen Situation ankommt, welcher der beiden Pole nun angesagt ist.
Ein weiteres Anwendungsfeld: Wenn es darum geht, typische Anforderungen im Change zu meistern, etwa die Menschen für ein Mitwirken zu gewinnen, setzt man am besten darauf, was ich die Dialektik von Bewahren und Verändern nenne. Auch hier wieder Sowohl-als-auch anstelle von Entweder-oder.
Viele Gründe also, weshalb ich dieses Modell gerne und häufig verwende.
Wie auch im eingangs erwähnten FK-Coaching.
Der Aha-Effekt stellt sich rasch ein. Das Anderssein des eben noch beklagten CEO bekommt plötzlich eine neue Schattierung. „Vielleicht hat dessen Zugang doch eine gewisse Berechtigung, zumindest in manchen Situationen?!“ Und schon verändert sich das Bild vom Gegenüber – man gibt ihm zumindest eine Chance auf Akzeptanz, auf ein simples Respektiert-Werden bis hin zu möglicherweise wertvollen Beiträgen, die er vielleicht doch leisten könnte. Ein zumeist sehr hilfreicher Shift in der eigenen Wahrnehmung.
Wenn es dann auch noch gelingt, die eigenen blinden Flecken und Schwachpunkte ebenso in den Fokus zu nehmen – oft angeregt durch die Unterschiedlichkeit des gerade noch irritierenden Menschen gegenüber – dann werden eventuell völlig neue Formen der Einsicht und Selbsterkenntnis greifbar.
Ganz persönlich zusammengefasst: Beim Werte- und Entwicklungsquadrat handelt es sich um ein super-mächtiges und super-schlaues Modell. Anwendbar in fast allen Lebenslagen. Manchmal nicht ganz easy in der Konstruktion. Jedoch mit extrem hohem Potenzial eines tieferen, ganzheitlicheren Verständnisses der komplexen, vielschichtigen Materie.